Welche Komposition möchtest du am Ende deines Lebens hören?
Diese Frage stelle ich öfter Menschen in meinen Vorträgen. Da wird erst mal geguckt, in den Augen ein großes Fragezeichen. Es dauert ein wenig, bis die Frage verstanden wird. Doch wenn sie verstanden ist, hat sie Konsequenzen, wenn ich die Antwort ernst nehme.
Ja, ich bin für meinen Lebensfilm, für meine Komposition verantwortlich, nicht jemand anderes, jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde, und am besten fange ich jetzt damit an, eine schöne Melodie zu schreiben, ich fange jetzt an, mir Oasen zu bauen, in die ich ruhige Meditationsmusik einfüge, in das laute, schnelle, hektische Lebensgetöse – z. B. mithilfe eines Waldspaziergangs, eines Eisdielenbesuchs, eines Kaffee-Tratschs mit der besten Freundin, eines Konzertbesuchs oder indem ich ein Bild male.
Ich habe eine Frau begleitet, die in ihrem Sterbebett mit großen, traurigen Augen zu mir sagte: „Ach, wie gern hätte ich jetzt ein Eis.“ Sie konnte nichts mehr essen, da ihr Magen voller Metastasen war. „Als ich noch essen konnte, bin ich immer an einer Eisdiele vorbeigegangen, weil ich mich um meine Figur sorgte.“
„Hätte ich nur dies oder jenes getan …“ das höre ich oft von Sterbenden. Tun wir es jetzt, anstatt „hätte“ zu sagen, sagen wir am Ende des Lebens hoffentlich: „Ja, das war ein schönes Leben, ich habe nichts versäumt, ich bereue nichts, das Leben war schön, bitte gleich noch mal.“
Wenn du eines Tages mit dem Tod konfrontierst wirst, als Angehöriger oder als Betroffener, dann dreht sich dein Leben auf den Kopf, und wenn du auf dem Kopf stehst, dann fällt alles aus den Taschen, was schwer ist und was du eigentlich nicht brauchst. Darum ist es gut, sich frühzeitig mit dem Sterben zu beschäftigen, denn dein Leben wird leichter und wird bewusster gelebt, jeder Augenblick genossen. Da du begreifst, dass auch du irgendwann an der Reihe bist. Hast du das Loslassen geübt, fällt dir das letzte Loslassen umso leichter.
Zu Beginn beeinflussen unsere Eltern den Rhythmus und die Melodieführung unseres Lebens und ich wünsche jedem Menschen, dass er am Anfang seines Lebens in eine gute, harmonische und liebevolle Melodie eingehüllt ist. Denn die Ouvertüre bestimmt oft den Verlauf der ganzen Komposition.
Ich wünsche auch jedem Menschen, dass er den Taktstock irgendwann selbst in die Hand nimmt. Häufig beginnt dies in der Pubertät. Disharmonien schleichen sich ein, der erste Liebeskummer, die Krawalle mit den Eltern, der Hormonumschwung, all das lässt die Komposition melancholisch oder schrill und laut werden.
Doch das alles dient dazu, seinen eigenen Rhythmus zu finden und schließlich der Melodie des eigenen Lebens zu folgen. Spätestens dann sollte der Mensch die Verantwortung für seine Lebensmelodie übernehmen. Doch, haben wir das Komponieren gelernt von unseren Eltern? Wie genau? Was haben sie uns vorgelebt?
Es gibt sieben Töne und sieben Halbtonschritte. Daraus entstehen die Tonleitern mit verschiedenen Vorzeichen.
Der eine Mensch mag aus diesem Fundus ein einfaches Kinderlied komponieren, ein anderer ein meditatives Mantra, ein mitreißendes Rock- oder ein samtenes Jazzstück, alles ist möglich und jedes Lebenslied klingt anders. Es hängt davon ab, wie wir die Notenwerte behandeln, setzen, mischen, wie wir sie verbinden oder trennen, wie wir sie betonen. Und je nachdem, wie unser Lebenslied klingt, genauso wird sich der Schlussakkord anhören.
Die Lebensamme
Manchmal bitten mich Menschen mitten im Leben um Hilfe, wenn ihre Komposition stockt oder zu disharmonisch wird. Dann wird geredet, mit meditativen Klängen entspannt und in die Anderswelt gereist oder das Leben – als Familienaufstellung – angeschaut. Manchmal erkennen Menschen erst dann, was in ihnen steckt, und schöpfen aus den Vollen, spielen sich in eine andere Stimmung, von Moll nach Dur. Es wird Zeit für den richtigen Rhythmus, für genau deinen Rhythmus. Jetzt.
Die Musikerin und Kabarettistin am Sterbebett
„Humor ist, wenn man trotzdem lacht“. Wenn es aber um den Tod geht, ist niemandem mehr zum Lachen zumute. Aber wenn man es schafft, dem Tod ins Gesicht zu lachen, verliert er seinen Schrecken.
Betrete ich ein Haus, in das ich gerufen wurde, weil sich dort ein Mensch in sein letztes Bett gelegt hat, spüre ich oft eine seltsame Atmosphäre. Als wäre alles in Watte gepackt. Keiner traut sich laut zu sprechen. Eine Enkeltochter flüsterte, ihre Mutter huschte mit gesenktem Kopf an mir vorbei, ihr Gatte hatte ein verweintes Gesicht. So ein bedrückter Ort ist kein schöner Ort zum Sterben, geht mir dann durch den Kopf. Sterbende formulieren es oft so: „Wieso sprechen sie mit mir so komisch? Ich lebe doch noch!“
Dann ist es Aufgabe einer Sterbeamme, das Leben noch mal für einen kurzen Moment zurückzubringen. Ja, man kann eine heitere Melodie schreiben, bis zum Schlussakkord. Manchmal helfe ich da mit mit meiner Gitarre. Und dann wird gesungen „Hoch auf dem gelben Wagen“ oder die „Lili Marleen“. So ganz allmählich, denke ich oft, muss ich mir für die nachfolgende Generation die Beatles aneignen.
Die Sterbeamme
Ich nehme aber beim Betreten des Hauses oft nicht nur Ratlosigkeit, Angst und Trauer wahr, sondern auch etwas Ungeklärtes. Zahlreiche Menschen tun sich schwer mit dem Sterben, weil sie noch etwas Unerledigtes im Keller liegen haben. Dabei haben wir doch von unseren Müttern gehört, dass man vor einer Reise die Wohnung aufräumen soll.
Sehr oft bitten mich Menschen am Ende ihrer Komposition um Unterstützung bei der Gestaltung ihres Schlussakkordes. Manchmal scheinen es Kleinigkeiten zu sein, die Menschen daran hindern, die Melodie gut zu Ende zu schreiben, den Schlussakkord zu komponieren. Dann ist es die Aufgabe einer Sterbeamme, gemeinsam mit dem Sterbenden herauszufinden, was das ist. Der Sterbende ist der Experte seiner Komposition. Welche Note fehlt noch, welche Note muss noch mal umgeschrieben werden? Was wünscht sich der Komponist, was muss noch erledigt oder verziehen werden? Darum geht es beim Finale, beim letzten großen Loslassen.
Im übertragenen Sinn reiche ich Notenpapier und Stift und helfe dabei, dass der Abschied rund klingt. Was passiert beim Schlussakkord? Gefällt dir deine Komposition? Wirst du erkennen, ob du den Tonraum ausgeschöpft hast? Bereust du Unterlassungen? Hast du dir fremde Ohrwürmer angeeignet, die eigentlich gar nicht zu deinem Rhythmus gepasst haben? Keine Melodie, die je geschrieben wurde, kann man einfach so löschen. Man kann aber bis zum letzten Atemzug lernen, die Lebensmelodie anzunehmen und zu singen statt zu stöhnen. Dann wird´s leicht, auch danach zu tanzen.
Ich weiß, wie man Tonfolgen auch noch im letzten Moment drehen kann. In meinem Werkzeugkasten habe ich mehrere Schlüsselsätze, um neu zu stimmen. Ruhige Meditationen, Rituale, Märchen und, und, und ...
Ja, auch ganz am Ende eines Lebens kann man noch die Saiten des Lebensinstrumentes neu stimmen. Als Sterbeamme vermittele ich zwischen Sterbenden und Angehörigen, begleite beide Seiten durch das Gefühlschaos und helfe ihnen, den Tod anzunehmen. Manchmal sei es für Sterbende leichter als für die Angehörigen, den Tod anzunehmen. „Manche sehen im Tod einen Freund, an den man sich anschmiegt, wenn man müde ist.“ Aber nicht bei allen.
Bei vielen überwiegt auch die Angst oder sie können nicht sterben, weil sie noch etwas zurückhält. Als Sterbeamme will ich aber, dass die Menschen in Frieden einschlafen können. „Da muss ich manchmal auch dafür sorgen, dass der richtige Zeitpunkt, sich auszusprechen, nicht verpasst wird.“ Aber nicht nur um die Gefühlswelt aller Beteiligten kümmert sich eine Sterbeamme. Ich habe auch viele Tipps, wie man die körperlichen Beeinträchtigungen des Sterbenden etwas lindern kann, beispielsweise wenn das Trinken schwerfällt oder sich Borken im Mund bilden.
Die Sterbeamme kennt die Phasen des Finales. Sie weiß ganz genau, was wann zu tun ist, und zwar richtig.
1. Nicht wahrhaben wollen.
2. Zorn und Wut.
3. Tiefe Traurigkeit.
4. Reisefieber.
5. Das Annehmen und Losfliegen.
Danach ist es still. Weil es vollendet ist.
Die Traueramme
Wenn es dann so weit ist, dass der Mensch sich von dieser Welt verabschiedet, bleibt die Sterbeamme und wird zur Traueramme, um den Hinterbliebenen mit einer Trauerbegleitung rund um das erste Jahr und auch gern darüber hinaus Halt zu geben.
Die Traueramme hat viele Rituale in ihrem Werkzeugkasten. Dass auch die Verstorbenen „auferstehen“ und in einer anderen Welt weiterexistieren, davon bin ich überzeugt.
Als meine Mutter verstarb, war ich 15 Jahre alt und fiel in ein tiefes Loch. Ich suchte Hilfe bei Therapeuten, Heilern und Schamanen. Jeder sagte „Ich müsse meine Mutter loslassen“, doch irgendwann hörte ich ihre Stimme: „Du musst mich nicht loslassen, gib mir doch bitte einen Platz in deinem Leben“. Da spürte ich, meine Mutter ist noch immer bei mir, und es ging mir besser. Dieses Erlebnis baue ich in meine Arbeit als Traueramme ein.
Ich halte also nichts vom Loslassen. Vielmehr sollte man den Lieben einen Platz im Herzen einräumen. In meinen Trauergruppen und -Seminaren zeige ich den Hinterbliebenen, wie sie Kontakt zu den Verstorbenen aufnehmen können. Beschäftigt sie noch Unausgesprochenes, unternehme ich mit ihnen Fantasiereisen, in denen sie sich mit den Verstorbenen aussprechen können. In erster Linie geht es darum, Trauernden Mut zu machen, die Trauer anzunehmen und sie auf dem Weg zurück ins Leben zu begleiten.
Die Trauerrednerin
Als Trauerrednerin bei einer Abschiednahme auf dem Friedhof spiele ich dann Lieder, die ich komponiert habe, um die Seele gut in ein neues Leben zu begleiten.